Can’t stop a movement!

Eindrücke aus acht Jahren Kämpfen gegen die innereuropäischen Grenzen, gegen die sogenannten „Dublin-Abschiebungen“

Am 15.Januar 2011 starben mehr als 20 afghanische Geflüchtete, als ihr Boot auf der Weiterflucht von Griechenland nach Italien in Seenot geriet und unterging. Ein 16jähriger Jugendlicher, der gerettet wurde, hat uns damals gebeten, die Geschichte aufzuschreiben, damit sie nicht vergessen würde.1 Die meisten dieser Toten wären noch am Leben, wenn es die Dublin-III-Verordnung nicht gäbe. Die meisten von ihnen hatten die Weiterflucht aus Griechenland damals zum wiederholten Male antreten müssen, nachdem sie aus anderen europäischen Ländern nach Griechenland zurückgeschoben worden waren. Wir widmen diesen Artikel der Erinnerung an die vergessenen Toten der inneren Grenzen der EU. Möge dieses Unrecht – wie dasjenige an den EU-Außengrenzen – möglichst bald Geschichte sein.

Die Kämpfe gegen die Abschiebungen nach Griechenland, Italien, Ungarn oder Bulgarien sind eng verbunden mit den Kämpfen an den europäischen Außengrenzen. Der Kampf gegen Dublin wurde maßgeblich entlang der Balkanroute ausgefochten, sowohl bis zum temporären Abschiebestopp nach Griechenland Anfang 2011 als auch in der zweiten Runde vor allem in Ungarn mit dem Durchbruch des March of Hope im September 2015.

Umkämpfte Räume, jeder Zentimeter Fortschritt zäh errungen von so vielen, die sich einzeln und immer wieder auch kollektiv dieser Verordnung widersetzt haben und es bis heute tun. Ohne diesen vielfältigen Widerstands-Erzählungen zuzuhören, erscheint es uns nicht möglich, die politische Auseinandersetzung um Dublin zu verstehen. Ein sozialer Prozess der Erosion des Grenzregimes, des hartnäckigen Unterlaufens und Unterhöhlens, mit dem das nicht-gewährte Recht auf Bewegungsfreiheit durchgesetzt wird. Unterstützt von Strukturen, die es mittlerweile überall in Europa gibt – einer Underground-Railroad der Bewegungsfreiheit.

Im Februar 2014 haben in Hanau eritreische und somalische Flüchtlinge in einer öffentlichen Versammlung die Gründung der selbstorganisierten Initiative Lampedusa in Hanau bekannt gegeben. Sie haben der Toten gedacht und von den schlimmen Erlebnissen ihrer Flucht durch die Sahara, in Libyen und über das Mittelmeer berichtet – und von ihrer anschließenden Obdach- und Schutzlosigkeit in Italien. Sie wollten sich wehren gegen die drohenden Dublin-Rückschiebungen und suchten nach Unterstützung aus der Zivilgesellschaft. „Wer der Toten im Mittelmeer gedenken will, sollte die Überlebenden schützen“ – kurze Zeit später gab es die ersten lokalen Kirchenasyle. Alle FreundInnen von Lampedusa in Hanau konnten letztlich ihr Bleiberecht durchsetzen und damit die Basis bilden für einen bis heute anhaltenden Zyklus erfolgreichen Widerstandes gegen „Dublin“.

In Bezug auf Griechenland und die Balkanroute oder auf die zentrale Mittelmeerroute und Italien – dieser Artikel will eine Geschichte des Widerstands gegen die Dublin-Abschiebungen erzählen. Eine von vielen Erzählungen der Kämpfe um Bewegungsfreiheit, in vielerlei Fragmenten und ausgehend von den Momenten, an denen wir (mit kein mensch ist illegal Hanau und Welcome to Europe) beteiligt waren, die wir unterstützt haben oder von denen wir ZeugInnen wurden.


Die Dublin-Verordnung wurde bereits 2003 verabschiedet. Grundsätzlich regelt sie: Das Land, welches die Einreise des Asylsuchenden „verursacht“ hat, weil seine Botschaft ein Visum ausgestellt hat oder weil es an der Grenze nicht ordentlich aufgepasst hat, soll für die Prüfung des Asylantrags zuständig sein. Stellt ein Flüchtling einen Asylantrag in einem anderen Land und wird dies anhand eines Eintrags in der europäischen Fingerabdruck-Datenbank EuroDAC oder aufgrund sonstiger Nachweise festgestellt, so erfolgt die Abschiebung in den nach der Dublin III-Verordnung zuständigen Staat. Es liegt auf der Hand, dass dieses System nicht funktionieren kann und sich die europäischen Zentralstaaten ihrer Verantwortung für die Flüchtlinge auf Kosten der Staaten, die an den europäischen Außengrenzen liegen, entledigt haben. Alle europäischen Staaten führen Abschiebungen in die Staaten an den Außengrenzen durch, die mit der Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge heillos überfordert sind.


Griechenland:

Lesvos, Oktober 2009

Unsere Geschichtsschreibung beginnt im Oktober 2009 auf der griechischen Insel Lesvos, am Zaun des berüchtigten Flüchtlingsknastes Pagani. Rauch liegt in der Luft, von den letzten Revolten, die in wenigen Tagen endlich den Schlussstrich ziehen werden unter dieses Gefängnis an der europäischen Außengrenze. Wenige Wochen zuvor hatten Proteste von innen und außen, gegen die unmenschlichen Haftbedingungen, Bilder produziert, die um die Welt gingen. Am Zaun werden jetzt noch vor der Freilassung bereits die nächsten Schritte geplant. Alle wollen weiter, denn alle wissen, dass die Situation in Griechenland ihnen ein besseres Leben nicht ermöglichen kann. Sie wissen auch über den Fluch des Fingerabdrucks – den abzugeben sie gezwungen waren und mit dem sich die Gefahr der Rückschiebung nach Griechenland in ihren Körper eingebrannt hat. Hier am Zaun diskutieren sie mit AktivistInnen aus anderen europäischen Ländern, die ihnen Adressen durch den Zaun reichen, an die sie sich bei der Ankunft wenden können. Die Idee für w2eu.info wird hier am Zaun geboren, vor dem Rauch der Revolten und mit der Überzeugung, dass das Recht auf Bewegungsfreiheit für alle gelten muss.

Der Webguide w2eu.info

Als Idee geboren noch während des Nobordercamps, sind es diese Begegnungen am Zaun von Pagani im Oktober 2009, aus denen heraus der Webguide w2eu.info2 schließlich gestartet wird. Zunächst als Zettel durch den Zaun gereicht, wird schnell klar, dass der Bedarf an Information und vor allem vertrauenswürdigen Kontakten riesig ist. Online als erster Versuch eines transnationalen viersprachigen Guides für Bewegungsfreiheit startet der Webguide 2010, vor allem mit Kontakten in fast allen wichtigen europäischen Zielländern und zunächst mit Informationen, wo welche Chancen bestehen, gegen Dublin-Abschiebungen nach Griechenland juristisch erfolgreich vorzugehen. Nach und nach entwickelt sich die Seite weiter – und das Netzwerk drum herum wächst zu einer immer stabileren Struktur, auf die sich in den Alltagskämpfen zurückgreifen lässt.

Schengendangle“: Unter dem LKW zurück nach Europa, Igoumentisa, Frühjahr 2010

Als wir nach sieben Stunden Busfahrt von Athen aus in Igoumenitsa ankommen, ist es kalt und die Dunkelheit der Berge vermittelt ein Gefühl von Isoliertheit. Wir sehen kleine Gruppen in den Hügeln verschwinden, der Wind trägt ihre Stimmen herüber. Igoumenitsa ist der zweitgrößte Fährhafen Griechenlands und damit auch Ausgangspunkt für all die Unsichtbaren, die ihren Weg fortsetzen in Richtung Nord-Europa.

Schengendangle“ nennen sie es, wenn sie sich unter die LKWs klemmen, zwischen die Reifen, um irgendwann vielleicht anzukommen. Das ist nicht ungefährlich, wir sehen einige mit gebrochenen Armen und Beinen. Die zwei Gefängnisse im Fährhafen sind immer überfüllt, denn die Kontrollen sind strikt und jeden Tag werden 10-40 Flüchtlinge von Italien zurückgeschoben. Wer zurückgeschoben wird, kann großes Pech haben. Wir hören Geschichten von Abschiebelagern an der albanischen Grenze, darüber dass Flüchtlinge 100 km entfernt mitten im Nirgendwo ausgesetzt werden und von heimlichen nächtlichen Rückschiebungen in die Türkei in der Region Evros. Nach einer Welle von Razzien diesen Winter, bei der viele der Nylonzelte und kleinen Habseligkeiten abgebrannt wurden, wechseln die meisten nun jede Nacht den Schlafplatz: von einer Baustelle in den Wald und wieder auf die Strasse. Kleine Zelte aus Nylonplanen versteckt unter Zweigen und jeden Tag Warten auf die gute Gelegenheit: das ist die Welt der Unsichtbaren in Igoumenitsa.

Fast alle hier waren mehr als einmal in Griechenland interniert und jeder zweite den wir treffen ist ein „Dublin2-Fall“. Einige wurden bereits mehrfach nach Griechenland zurückgeschoben. Jamil wurde im März 2009 aus Deutschland abgeschoben. Er zeigt uns seine Ausweisungsverfügung von Griechenland: „Seit der Abschiebung war ich hier 10 mal inhaftiert und jedes Mal bekomme ich am Ende wieder die Aufforderung, Griechenland innerhalb von 30 Tagen zu verlassen. Aber wo soll ich denn hingehen?“ Salah kommt aus Palästina und ist bereits seit sechs Monaten in Igoumenitsa: „Ich habe vergessen hungrig zu sein, ich bin nicht mehr durstig und weiß nicht mehr ob ich müde bin.“ Er trägt eine fünf Nummern zu große Jacke über drei Pullovern: „Jeder wird hier krank. Wir suchen in den Mülleimern nach Essen. Es gibt kein warmes Wasser und nirgendwo eine Möglichkeit die Handys aufzuladen oder Kontakt zu meiner Familie zu halten.“ Als wir beginnen uns zu verabschieden dreht sich ein junger Somali zu uns um: „Lasst uns nicht allein! Lasst uns nicht allein!“ Es klingt als sei es nicht an uns persönlich gerichtet, eher ein allgemeiner Appell and die Gesellschaft.3

Athen, Juli 2010

Athen ist die Drehscheibe der Transitmigration in Griechenland, ob von den Inseln oder aus der Evros-Region: in der Regel wird Athen zur nächsten Station, um die weitere Reise zu organisieren. In den vergangenen Jahren war Athen zudem die Drehscheibe für Dublin-Abschiebungen. Aus allen europäischen Ländern landen Dublin-Abgeschobene in Athen, wo sie am Flughafen unter menschenunwürdigen Bedingungen inhaftiert werden. Nicht wenige drehen diese Schleife mehrmals, versuchen immer wieder Griechenland zu verlassen. Und nicht wenige enden in den Strassen Athens, wenn sie irgendwann die Hoffnung und alle Möglichkeiten an Geld zu kommen verloren haben. Für viele wird Athen zur Falle: oftmals ist nicht mal freiwillige Rückkehr von hier aus möglich. Es gibt ein steigendes Problem massiver Obdachlosigkeit von Flüchtlingen. Das prekäre Hilfesystem von NGOs ist im Zuge der Wirtschaftskrise nahezu gänzlich zusammengebrochen. Im Sommer 2010 waren die meisten Angestellten bei NGOs monatelang unbezahlt und stellten daraufhin die Arbeit phasenweise nahezu gänzlich ein. Rund um den Attiki-Platz, auf dem sich tagsüber viele afghanische Flüchtlinge aufhielten, kam es über mehrere Monate zudem zu immer massiveren rassistischen Übergriffen. Die Situation von Minderjährigen in Athen ist besonders dramatisch: unzählige sind neben allen anderen Problemen sexuellen Übergriffen in den Parks ausgesetzt. Zugleich häufen sich die Proteste von Flüchtlingen: 2010 fanden mehrere Hungerstreiks von Flüchtlinge für Asylanerkennung und Legalisierung statt, oftmals verschärft indem die Streikenden sich die Münder zunähen.4

Diese Beschreibung der Plätze Athens fasst die Situation im Sommer 2010 zusammen, der erste Bericht des Infomobils Griechenland war ein „DublinII-Deportation-Diary“5, ein Bericht mit den Stimmen der Dublin-Abgeschobenen Athens. Dokumentation aller individuellen Geschichten ist in dieser Phase ein entscheidendes Mittel. So wurden sowohl in den dokumentierten Einzelfällen verschriftlichte Zeugnisse verwendet, um Abschiebungen nach Griechenland vor Gerichten anderer europäischer Länder zu verhindern, als auch um generell auf die Situation der Dublin-Abgeschobenen hinzuweisen und die unmenschlichen Lebensbedingungen in den Transitländern an den Außengrenzen zu thematisieren.

Abschiebestopp nach Griechenland, Januar 2011

Im Januar 2011 entschied der Europäische Menschenrechtsgerichtshof EGMR in einem individuellen Fall, dass Griechenland die Menschenrechte des Betroffenen verletzt habe, da er Haft unter inhumanen Bedingungen ausgesetzt wurde und zudem nach Entlassung aus der Haft obdachlos war. Die Entscheidung betraf auch Belgien: auch durch die Abschiebung nach Griechenland, in eben diese Umstände, sei der Betroffenen in seinen Menschenrechten verletzt worden. In Folge dieser Entscheidung wurden die Abschiebungen nach Griechenland in mehr und mehr EU-Ländern ausgesetzt, denn hunderte weitere „griechische“ Fälle drohten genauso entschieden zu werden. Dieser Abschiebestopp war somit quasi in letzter Instanz auch höchstrichterlich entschieden worden.

In erster Linie war dieser temporäre Abschiebestopp, der immerhin 7 Jahre anhielt, jedoch das Resultat der Kämpfe der Geflüchteten selbst und derer, die an ihrer Seite waren. Nachdem sie nach Griechenland abgeschoben waren, gingen viele wieder und wieder los und kehrten zurück an die Orte, an denen sie bleiben wollten. Sie waren es, die die unhaltbaren Zustände in Griechenland wieder und wieder selbst dokumentierten und in die Öffentlichkeit brachten. Es waren auch die zähen juristischen Auseinandersetzungen in jedem Einzelfall, vor allem aber die Hartnäckigkeit der Betroffenen selbst, die schlussendlich die Aussetzung der Abschiebungen erforderlich machte.

Gerade jetzt, wo wir neue Strategien entwickeln müssen, um erneut die Abschiebungen nach Griechenland zurückzudrängen, müssen wir aus dieser Erfahrung lernen. Seit März 2017 wurde im Zuge des allgemeinen Rollbacks nämlich angekündigt, auch die Überstellungen nach Griechenland wieder aufzunehmen.

Ungarn:

In Ungarn waren die Menschenrechtsverletzungen zunächst weit weniger öffentlich – was weniger der Tatsache geschuldet war, dass sie weniger massiv waren als vielmehr der versteckteren Formen von Gewalt. Haft während des Asylverfahrens war und ist in Ungarn eher die Regel als die Ausnahme. Als wir begannen, uns mit der Situation in Ungarn zu beschäftigen, waren es vor allem die unerträglichen Haftbedingungen, über die alle berichteten. Die Vergabe von Beruhigungsmitteln war Standard und viele kamen aus der monatelangen Haft mit schweren psychischen Problemen und nicht selten Medikamentenabhängigkeiten.

Erste Notizen über die unhaltbaren Zustände vor allem in den ungarischen Hafteinrichtungen für Flüchtlinge verhallten noch mehr oder weniger ungehört. Bereits im Dezember 2010 gab es Überlegungen, auch die Situation in Ungarn genauer unter die Lupe zu nehmen, da sich hier auf andere Weise aber mit Sicherheit ähnlich gravierende Mängel, wie im griechischen Asylsystem finden ließen. Es begannen erste Recherchereisen, bei denen Betroffene auf Kontakte in den Zielländern über den Webguide http://w2eu.info hingewiesen und Informationen über Dublin-Rückschiebungen mit Flüchtlingen ausgetauscht wurden. Bereits in dieser ersten Phase haben viele ihre Geschichten erzählt.

So gab uns ein 17jähriger Afghane ein Interview am Telefon des Abschiebegefängnisses.6 Wir hatten uns nie zuvor gesehen, es war der Freund eines Freundes, der uns in Kontakt brachte. Es ging ihm sehr schlecht – aber er sagte er wolle Zeugnis ablegen über das, was den Abgeschobenen in Ungarn geschehe. Er berichtete seit bereits fast 3 Monaten als Minderjähriger inhaftiert zu sein. Er hoffte, dass wenn die Praxis der Inhaftierung von Asylsuchenden bekannt würde, die Abschiebungen nach Ungarn ein Ende fänden. Er sagte für ihn sei es jetzt zu spät, aber vielleicht könne es all den anderen, die danach denselben Weg gingen helfen, nicht dasselbe erleben zu müssen. In dieser Zeit haben wir unzählige Interviews gemacht und viele haben die Zeugnisse, die sie teilweise noch in Ungarn ablegten später auch genutzt, um beim nächsten Versuch der Weiterflucht ihre Situation zu dokumentieren und sie in Gerichtsverfahren gegen die erneute Abschiebung nach Ungarn zu nutzen.

Bereits 2012 und 2013 versuchte bordermonitoring.eu in Zusammenarbeit mit Pro Asyl im deutschsprachigen Raum die Situation von Flüchtlingen in Ungarn „zwischen Obdachlosigkeit und Haft“ auch generell entsprechend zu dokumentieren und damit Einfluss auf Verfahren vor verschiedenen Gerichten zu gewinnen.7 Im Jahr 2016 wurde erneut ein aktueller Ungarn-Bericht herausgebracht, der vor allem vor vielen Gerichten in Deutschland Beachtung fand.8

Ungarn war lange Zeit nur als Ort des schnellen Transits bekannt. Mit Zunahme der Dublin-Abschiebungen hatten einige Betroffene beim zweiten und dritten Anlauf keine Kraft mehr und vor allem Familien mit Kindern blieben zunächst und versuchten sich in Ungarn zu organisieren, um dort für eine Verbesserung der Lebensbedingungen zu kämpfen. Von Spätsommer 2012 bis Frühsommer 2013 protestierten vor allem afghanische Familien in Budapest und Bicske für bessere Lebensbedingungen, unterstützt von der damals noch ganz jungen Gruppe MigSzol9. Als alle Bemühungen scheiterten und die meisten Familien inzwischen zwar einen Status, aber dennoch keine Perspektive hatten und kurz vor der Räumung aus dem Flüchtlingslager und damit vor der Obdachlosigkeit standen, entschieden sie sich zur kollektiven Abstimmung mit den Füssen und über 70 Geflüchtete stiegen am 12.6.2013 gemeinsam in einen Zug. Da alle in Ungarn bereits einen Schutzstatus hatten, wurden sie an den Grenzen zwar kontrolliert, sie durften aber mit den Papieren auch europäisch reisen und so gelangten sie bis an ihr Ziel. Am Bahnhof in München entschied sich schließlich das Ziel der Reise: Karlsruhe. Dort hatten manche Familienangehörige und jemand hatte gehört, dort könnte es vielleicht eine Chance geben. In Karlsruhe gingen sie zur dortigen Erstaufnahme, legten alle ihre ungarischen Papiere auf den Tisch und beantragten Asyl, da man in Ungarn nicht menschenwürdig leben könne.

Wir, die Flüchtlinge die zuvor im Flüchtlingslager Bicske (Ungarn) lebten, haben entschieden Ungarn zu verlassen und in Deutschland Asyl zu beantragen. (…) Die Tatsache, dass etwa 100 von uns Ungarn verlassen haben wird nichts in Bicske ändern. Die nächsten Menschen, die einen Schutzstatus in Ungarn erhalten werden mit denselben Problemen konfrontiert sein.

Wie auch immer, wir haben keine andere Möglichkeit gesehen als zusammenzubleiben und eine gemeinsame Lösung woanders zu suchen. Wir haben festgestellt, dass das europäische Asylsystem nicht funktioniert, es gibt keine Gleichbehandlung und gleiche Bedingungen für Asylsuchende und Flüchtlinge in Europa. Wir werden dieses System nicht akzeptieren. Unser politischer Widerstand ist Bewegung. Wir müssen das für unsere Kinder tun.10

Diese Erklärung gaben sie im Zusammenhang mit einer detaillierten Auflistung aller Versuche in Ungarn eine Veränderung der Situation herbeizuführen, die sie zuvor unternommen hatten (von Verhandlungen mit der Migrationsbehörde, der Lagerleitung, Politikern, dem UNHCR, Protestaktionen vor dem ungarischen Parlament etc.). Dies war die erste kollektiv organisierte Ausreise, die Familien organisierten auch in Deutschland gemeinsam Veranstaltungen. Bis heute leben fast alle noch immer in Baden-Württemberg.

Italien – Der Fluch des Fingerabdrucks

Wir flüchten die ganze Zeit, weißt du? Unser Leben ist Obdachlosigkeit, wir schlafen auf einer großen Straße ohne Hoffnung. Wir sahen keine Hoffnung mehr bis jetzt. Wir leben nur, atmen, schlafen. Sie haben für uns entschieden: dass wir keine Rechte haben. Das bedeutet Dublin für uns. Es soll keine anderen Wege für uns geben als das Leben auf der Strasse.

O. aus Eritrea, Oberursel, Juli 2011

Ohne Dublin, das würde bedeuten, ich wäre ein Vogel und könnte fliegen. Ich würde einfach mein Studium fortsetzen, heiraten und ein besseres Leben führen.

S. aus Eritrea, Oberursel, Juli 2011

Die italienischen Inseln Lampedusa und Sizilien sind die Orte, an denen sich die Geschichten derjenigen häufen, die versuchten, sich dem „Fluch der Fingerabdrücke“ von Anfang an zu widersetzen. Viele wissen bereits vor der Ankunft in Italien, dass der Fingerabdruck dort direkt nach der Ankunft, oder manchmal sogar schon auf den Booten der Küstenwache genommen, eine Falle sein wird. Die Formen des Widerstands gegen die Fingerabdrücke sind vielfältig. Ergibt sich die Möglichkeit, fliehen viele direkt nach der Ankunft in Augusta, Pozallo oder Catania. Manche entkamen gar von der kleinen Insel Lampedusa, versteckt in LKWs auf der Fähre. Manche behandelten ihre Fingerspitzen vor der Ankunft mit Kleber, verätzten oder verbrannten sie. Manche widersetzen sich gegen die Fingerabdrucknahme. Es gibt Zeugnisse massiver Gewalt durch die italienische Polizei, die teils mit Aufstandsbekämpfungseinheiten gegen Menschen vorgingen, die gerade von Booten aus dem Mittelmeer gerettet wurden, um sie zur Abgabe von Fingerabdrücken zu zwingen. Manchmal wurden den Menschen mit roher Gewalt die Hände oder Finger gebrochen, wiederholt wurden Elekroschocker eingesetzt, um den Widerstand zu brechen. Oftmals wurde Nahrung verweigert, bevor nicht die Fingerabdrücke abgegeben waren.

Im Juli 2013 war einer der kollektiveren Ansätze dieser Proteste auf Lampedusa schließlich erfolgreich:

Täglich kommen in den letzten Wochen neue Boatpeople – Flüchtlinge und MigrantInnen vor allem aus ostafrikanischen und subsaharischen Ländern – via Libyen auf der italienischen Insel Lampedusa an. Sie werden dort in einem überfüllten Lager interniert und vor dem Transfer nach Sizilien oder auf das italienische Festland registriert, inklusive Abnahme der Fingerabdrücke. Viele der Betroffenen wissen von FreundInnen und Verwandten, die dasselbe erlebt haben, dass ihr Aufenthalt mit diesen Fingerabdrücken an Italien gebunden wird, dass sie dort zwar einen Schutzstatus bekommen können, der aber sozial nichts wert ist. Denn in der Regel finden sie sich danach obdach- und einkommenslos auf der Strasse wieder, und jede Weiterreise nach Nord- Westeuropa ist mit sofortiger Rückschiebung gemäß Dublin II bedroht. Vor diesem Hintergrund kam es Mitte Juli auf Lampedusa zu beeindruckenden Protestaktionen. Etwa 250 Flüchtlinge insbesondere aus Eritrea verweigerten die Abgabe ihrer Fingerabdrücke und forderten von den Verantwortlichen den sofortigen Transfer. Nach Protesten und Auseinandersetzungen mit der Polizei im Lager demonstrierten sie am 20.7. über zwei Stunden durch die Straßen des kleinen Touristenortes. „No Fingerprints“ war ihr zentraler Slogan, ein kollektiver Protest gegen das Dublin II Unrecht. Danach wurde ein 24-Stunden Sit-In auf dem Platz vor der Kirche organisiert, und in selbstbewussten Verhandlungen mit den lokalen Verantwortlichen konnten sie ihre Kernforderung auch durchsetzen.11

Der Fingerabdruck in Italien wird auch für einige zur Falle, die nach dem Abschiebestopp nach Griechenland über Italien weiterfliehen, wie die Geschichte von Nekoh eindrücklich zeigt, eine schier endlose Odyssee durch den europäischen Dublin-Jungle.

Aus Afghanistan habe ich über den Iran und die Türkei mehrere Monate gebraucht, um nach Griechenland zu fliehen. Ende November 2011 habe ich den Grenzfluss Evros überquert. Aber in Griechenland kann man als Flüchtling nicht überleben.

Im Dezember 2011 habe ich mich in einem LKW versteckt, um mit der Fähre nach Bari/Italien zu kommen. Beim Herausfahren wurden wir im Hafen von der italienischen Polizei entdeckt und direkt mit der Fähre wieder nach Griechenland abgeschoben – direkt ins Gefängnis. Beim zweiten Versuch bin ich zu Fuß über die Grenze nach Mazedonien, dann nach Serbien und Ungarn gelaufen. Dort war ich 6 Wochen in Haft, dann wurde ich nach Serbien abgeschoben. Die serbische Polizei hat uns geprügelt, Geld weggenommen und an der mazedonischen Grenze illegal abgeschoben. Von der mazedonischen Polizei wurden wir im Wald ausgesetzt und unter Drohungen Richtung Griechenland gejagt. Denselben Weg bis Ungarn bin ich noch ein zweites Mal gegangen – mit dem gleichen Ergebnis: Haft und illegale Rückschiebung bis nach Griechenland. Beim vierten Mal bin ich in einem kleinen Boot mit 72 Personen nach Italien gefahren. Nach Tagen auf dem Meer bin ich im Juli 2012 in Süditalien angekommen.

Über Frankreich und Belgien versuchte ich, nach Deutschland zu gelangen. In Brüssel wurde ich kontrolliert und in ein Abschiebegefängnis gebracht. Ich bin aus Angst vor der Abschiebung nach Italien in Hungerstreik getreten. Sie haben mich im Februar 2013 mit einer Beruhigungsspritze ruhiggestellt und vier belgische Polizisten haben mich nach Rom begleitet. Nach der Abschiebung habe ich keine Unterkunft bekommen und musste aus Italien weiter fliehen. Ein paar Monate blieb ich in Frankreich, ohne jegliche Unterstützung, dann versuchte ich nach Deutschland zu kommen. Nach einer zweiten Abschiebung aus Belgien wurde ich am Flughafen in Rom wieder in die Obdachlosigkeit geschickt. Ich bin vor dem Flughafen in Rom in Hungerstreik getreten. Irgendwann habe ich aufgegeben und wieder obdachlos bei anderen Afghanen im Zelt gelebt.“12

Nekoh floh danach m Ende seiner Odyssee durch Europa erneut, diesmal bis Deutschland. Im Kirchenasyl in Frankfurt verbrachte er mehrere Wochen, bis die Überstellungsfrist nach Italien um war und er endlich keine Angst mehr vor der Abschiebung haben musste. Er lebt und arbeitet heute in Hanau.

Es gibt Menschen, die quasi zu Nomaden werden, hin- und herwandern in Europa, um endlich einen Ort zum Bleiben zu finden. Wir lernen einen Somalier kennen, der Fingerabdrücke in mindestens neun europäischen Ländern abgegeben hat. Überall wurde er entweder nach Italien abgeschoben oder floh vor der Abschiebung nach Italien weiter.

Auch bei der Ankunft in Deutschland verbrennen und verätzen sich viele vor allem in den Jahren 2011 und 2012 die Finger. Diese Widerstandsform läuft bald ins Leere: die Asylverfahren werden wegen Nicht-Mitwirken bei der Identitätsfeststellung schlicht nicht weitergeführt. Oftmals geraten die Betroffenen Jahre später in die Dublin-Mühle, wenn die Fingerabdrucknahme die Person unvorbereitet trifft. Viele schaffen es auch, hangeln sich weiter bis sie z.B. ihre Freundin heiraten, die schon einen deutschen Aufenthalt hat.

Widerstand gegen Dublin-Abschiebungen im Flugzeug

Manche wehren sich gegen die Abschiebungen nach Italien. Die meisten Abbrüche von Abschiebemaßnahmen aufgrund von Widerstandshandlungen am Frankfurter Flughafen verzeichnet die Statistik zu diesem Zeitpunkt bei Eritreern die nach Italien abgeschoben werden sollen.

Kidane ein eritreischer Freund aus Oberursel (inzwischen hat er nach vielen Jahren Kampf nicht nur einen blauen Pass, sondern auch endlich eine Wohnung gefunden) war einer von ihnen. Nach der von ihm am 6.12.2011 selbst verhinderten Abschiebung saß er zunächst in Abschiebehaft in Frankfurt-Preungesheim und sagte:

Ich werde mich nicht noch einmal still und heimlich nach Italien abschieben lassen. Wenn wir schweigen, wird sich nichts ändern. Die Situation für Flüchtlinge in Italien ist ein ständiger Bruch unserer Menschenrechte. Ich bin wie viele andere junge Leute vor permanenten Menschenrechtsverletzungen in Eritrea geflohen. Hier in Europa erleben wir erneut, wie wir unter unwürdigen Bedingungen leben müssen.

Nach seiner Abschiebung nach Italien traf er sich dort mit einem Journalisten des Stern, der die Geschichte von Kidane stellvertretend für so viele andere ausführlich dokumentierte.13

Shewit und zwei weitere eritreische Freunde widersetzten sich im 2014 gar mehrfach. An ihnen statuierte das Regierungspräsidium in Darmstadt schlussendlich ein Exempel. Alle Eritreer sollten wissen: jeder Widerstand lässt sich brechen und man würde es sich auch was kosten lassen. In einer eigens gecharterten kleinen Maschine wurden die drei unter massiver Polizeibegleitung, einer ruhig gespritzt von einem willfährigen Mediziner, schlussendlich wie Schwerverbrecher nach Italien geschafft:

Am 17.Juni 2014 wurde ich gegen 6 Uhr morgens in meiner Zelle im Ingelheim geweckt. Das war der dritte Versuch, mich abzuschieben, nachdem ich mich zweimal geweigert hatte. Ich habe gesagt, dass ich nicht nach Italien fliegen will und sie haben dann Verstärkung geholt. Insgesamt sechs Männer sind in die Zelle gekommen und ich habe um Hilfe geschrien. Sie haben Handhebel an der linken Hand eingesetzt und mir mehrfach gegen die Beine getreten. Sie haben mit dann die Hände mit Handschellen auf dem Rücken gefesselt und mit Fußschellen angelegt und mich so gefesselt in das Polizeiauto verfrachtet.

Außer mir wurden noch zwei weitere Eritreer abgeschoben. Ich war der erste der in den Flieger gebracht wurde. Ich habe schon im Auto gesagt, dass die Abschiebung gegen meinen Willen geschieht. Auf der Treppe war der Pilot und ich habe der Polizei gesagt, ich will mit ihm sprechen. Als ich drin war haben sie den zweiten Mann gebracht. Ich habe ihn von drinnen nur schreien gehört: „Uuyuuyuuy!“ Es waren Hilfeschreie. Er spricht kein englisch und so schrie er einfach auf diese Art um Hilfe. Sie haben ihn dann in den Flieger getragen. Auch der dritte Eritreer, schrie auf diese Weise und wehrte sich und auch ihn schleppten sie in den Flieger. Im Flugzeug haben wir dann alle drei geschrien und das Flugzeug ist etwa 30 Minuten nicht losgeflogen. Mir haben sie das Ohr umgedreht als ich geschrien habe, ich habe Angst bekommen, denn ich sollte ja eigentlich am Ohr operiert werden, was dann nicht mehr stattfand, weil sie mich vorher zur Abschiebung abgeholt haben. Die Polizisten haben versucht uns voneinander abzuschirmen, daher konnte ich nicht genau sehen, was mit dem Freund hinter mir geschah. Er hat wohl eine Art Schock bekommen und hatte Schaum vor dem Mund. Da war eine Ärztin mit uns in dem Flieger. Sie hat ihm eine Spritze gegeben und dann haben wir nichts mehr von ihm gehört, er war ruhig gespritzt. Wir fliegen los und wir anderen beiden rufen weiter. Der Polizist neben mir sagt ironisch „Byebye Germany! Ciao!“ und ich frage ihn, wie er in einer solchen Situation Witze machen kann, ob er noch einen Rest von Menschlichkeit hat.

Wenige Wochen später waren sie alle wieder da – und nach jahrelangem Ringen und zähen juristischen Auseinandersetzungen hat Shewit heute eine Flüchtlingsanerkennung in Deutschland. Kurz nach seiner Rückkehr hielt er während einer Demonstration gegen Abschiebungen in Darmstadt eine Rede vor dem Regierungspräsidium in Darmstadt und klagte genau jene Behörde der Menschenrechtsverletzung an, die wenige Wochen zuvor eine eigene Maschine gechartert hatte, um ihn abzuschieben.

Kidane und auch Shewit haben nach der ersten erfolgreich verhinderten Abschiebung jeweils über Wochen in Abschiebehaft gesessen. Kurz nach der Charterabschiebung war es mit der Abschiebehaft zunächst vorbei. Langwierige Auseinandersetzungen vor den Gerichten bis zum EUGH ergaben, dass die Abschiebehaft in den sogenannten Dublin-Fällen nicht in gehabtem Ausmaß angewendet werden kann.

Vor allem rund um den Frankfurter Flughafen, dem größten deutschen Abschiebeflughafen, aber auch an weiteren Flughäfen, formierten sich Gruppen zur Unterstützung bei Abschiebeverhinderung. Sie versuchten sowohl die Airlines und deren Personal, als vor allem auch Mitreisende zu sensibilisieren. Im März 2012 kam es zu parallelen Aktionen in den fünf größten deutschen Abschiebeflughäfen. In dem Aufruf hieß es:

Unterstützen wir diesen Widerstand! Schauen wir uns um auf den Flügen nach Rom, Budapest oder Valetta! Stehen wir auf gegen Abschiebungen! Im wahrsten Sinne des Wortes: denn als Passagiere an Bord können wir Abschiebungen verhindern, indem wir uns nicht anschnallen sondern aufstehen und uns beim Piloten beschweren.

Das Dublin II-System muss umgehend abgeschafft werden!

Keine Abschiebungen ins soziale Elend an den Rändern Europas!

Asylsuchende müssen dort Schutz suchen dürfen, wo sie möchten!

Für ein Europa, das Willkommen heißt.14

An manchen Orten (die Praxis variiert stark zwischen den verschiedenen deutschen Bundesländern und teilweise auch kommunal zwischen den Landkreisen) entwickeln sich Blockadegruppen, die angekündigte Abschiebungen vor den Toren der Lager oder vor der Wohnungstür blockieren. Vor allem Göttingen und Osnabrück werden zu den Hochburgen dieser Art von Abschiebeverhinderung von außen – bis irgendwann von oberster Stelle entschieden wird: Abschiebungen dürfen nicht mehr vorher angekündigt werden.

Deutschland und die Orte der Kämpfe ums Bleiben

Noch nie war der Widerstand gegen die Einschränkung der Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen und Migrant*innen und insbesondere gegen innereuropäische Abschiebungen so lautstark: Deutschland- und europaweit formieren sich Initiativen wie die selbstorganisierten Kämpfe der „Lampedusa-Gruppen“. Auch die Außengrenzen sind so umkämpft wie noch nie. Fast wöchentlich überwinden Migrant*innen kollektiv die Grenzzaunanlagen in Ceuta und Melilla, tausende sind in den letzten Monaten in Sizilien gelandet, auf Lampedusa verweigerten öffentlich Hunderte erfolgreich die Registrierung ihrer Fingerabdrücke und auch in der Ägäis kommen täglich mehr Boote auf den griechischen Inseln an.15

Time to Act. Dublin muss weg! – Aufruf im Juni 2014

Lampedusa in Hamburg ist die erste Gruppe, die sich explizit in Bezugnahme auf den ersten Ort der Ankunft gründet. Anders als in vielen der folgenden selbstorganisierten Gruppen, besteht Lampedusa in Hamburg vor allem aus Menschen, die in Italien bereits Papiere haben und nun versuchen, in Hamburg Arbeit zu finden:

In Lampedusa waren wir 7.000 Personen in einem Lager für etwa 900 Personen. Dennoch bemühen sich die Leute dort. Aber sie bekommen aus der EU keine Unterstützung. Das Dublin II System – Verbleib im Land der Erstankunft – verletzt unsere Menschenrechte. Es zwingt uns auf der Straße zu leben und zu sterben. Nach Anerkennung unseres Flüchtlingsstatus hat uns Italien im Winter 2012 auf die Straße geworfen. Sie haben uns aufgefordert, Italien zu verlassen. Sie sagten: die EU ist groß, geht und findet euren Weg. Hier gibt es nichts mehr für euch. Und so war es dann, mit nichts im Schnee und Eis haben wir uns auf den Weg gemacht, nach Frankreich, Skandinavien, in die Schweiz und nach Deutschland. Wir sind anerkannte Flüchtlinge aus einem Krieg, an dem die Europäischen Staaten sich beteiligt haben und dennoch tun sie so, als würden wir nicht existieren. Aber wenn wir uns zeigen und unsere Situation sichtbar machen, will man uns abschieben. In Italien können wir betteln, hungern, stehlen, Straßenjunge werden oder einfach sterben, Hauptsache, das Dublin II System wird umgesetzt. Es ist schmerzhaft, nachdem wir in Libyen unser Leben stabilisieren konnten, erneut ums Überleben kämpfen zu müssen – in den Ländern, die sich als große Demokratien bezeichnen.“16

Lampedusa in Hanau entsteht im März 2014, als mehr und mehr somalische und eritreische Geflüchtete in Hanau und dem drum herum liegenden Main-Kinzig-Kreis von Abschiebungen vor allem nach Italien bedroht sind:

Wir flohen vor einer Diktatur mit Zwangsrekrutierung und politischer Unterdrückung in Eritrea und vor einem 23 Jahre andauernden Bürgerkrieg mit Zwangsrekrutierung und Vergewaltigung von Frauen in Somalia. Wir überlebten die Durchquerung der Wüste mit wenig Essen und zu wenig Wasser, wir wurden konfrontiert mit Entführungen um unseren Angehörigen Geld abzupressen und bedroht damit unsere Körper zu missbrauchen für den Handel mit unseren Organen. Angekommen in Libyen erlebten wir rassistische Angriffe auf der Strasse und systematische Haft, manchmal für Jahre. Als wir das Mittelmeer überwanden mussten wir erneut unser Leben auf überfüllten Booten riskieren. Manche von uns haben Schiffsunglücke erlebt und den Tod von Angehörigen und FreundInnen auf dem Meer, bevor wir an den Küsten von Lampedusa, Sizilien oder Malta ankamen. Die meisten von uns wurden gezwungen Fingerabdrücke in Italien oder Malta abzugeben, obwohl wir niemals vorhatten dort zu bleiben. (…) In Italien durchlebten wir überfüllte Lager in unmenschlichen Bedingungen und internen Kämpfen. Wir erlebten Obdachlosigkeit, rassistische Gewalt und sexualisierte Übergriffe auf der Straße, wir waren ohne jedes Einkommen, manchmal einmal täglich Essen durch die Caritas und ohne medizinische Versorgung. (…) Vor diesem Hintergrund flohen wir nach Deutschland um Asyl und Schutz zu suchen. Doch hier erleben wir erneut Unsicherheit und die Drohung mit Abschiebungen zurück nach Italien und Malta. Deutsche Behörden verweigern uns den Zugang zu einem fairen Asylverfahren. (…) Wir wissen, dass viele unserer FreundInnen und Angehörigen von Hamburg bis Frankfurt in einer ähnlichen Situation sind. (…) Das Dublin-System kann uns nicht den Schutz und die Sicherheit garantieren, die wir dringend brauchen. Es hindert uns am Aufbau einer Zukunft nach all diesem Leid, das wir erleben mussten. Wir sind in Solidarität gegen die Abschiebungen und den Ausschluss und für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen in Deutschland und Europa.

Wir brauchen die Freiheit den Ort zu wählen, an dem wir bleiben werden.

Wir sagen: löscht unsere Fingerabdrücke aus der europäischen Datenbank, denn diese Fingerabdrücke sind wie ein Gefängnis für uns. Nein zu den Fingerabdrücken, nein zu Dublin II und III.

Wir sind hier um zu bleiben!17

Lampedusa in Hanau besteht vor allem aus einem gegenseitigen Versprechen: keine und keiner wird mit der Angst vor der Abschiebung alleine bleiben – und selbst wenn es uns nicht gelingen wird alle Abschiebungen zu verhindern, so wissen wir doch: gerade von Italien gibt es auch einen schnellen Weg zurück. In Frankfurt gründet sich parallel die Gruppe Refugees for Change. Zunehmend versichern sich Betroffene in Reden bei den verschiedenen Anti-Abschiebekundgebungen: selbst wenn es mich erwischt, wir werden wieder kommen!

Parallel werben sie vor allem aktiv um die Unterstützung durch Kirchengemeinden. Im Kirchenasyl verbringen nicht wenige die Zeit bis zum Ende der sogenannten Überstellungsfrist: innerhalb von 6 Monaten ab Zuständigwerden muss Deutschland entsprechend der Dublin-Verordnung die Betroffenen abschieben, nach Ablauf werden sie selbst für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Nur bei Untertauchen lässt sich diese Frist auf 18 Monate ausweiten. Im Kirchenasyl wird den Behörden die Adresse direkt mitgeteilt, sie können also jederzeit einen Zugriff anordnen. Damit ist die Person nicht untergetaucht und es wird zur politischen Entscheidung gegen wie viel Widerstand und um welchen Preis Abschiebungen durchgesetzt werden sollen. Die wenigen Male, in denen Dublin-Kirchenasyle durch die Behörden gebrochen werden, haben auf lange Sicht eher einen Boomerang-Effekt. Ein Kirchenasyl einer tschetschenischen Familie in Augsburg, aus dem die Familie zur Abschiebung von Polizei herausgeholt wird hat zur Folge, dass die größte Zahl von Kirchenasylen von da ab in Bayern stattfinden. Nachdem sich die Landeskirche deutlich hinter die betroffenen Gemeinden stellt und auch das bayrische Innenministerium schließlich zurückrudern muss.

Schlussendlich geht es immer noch um wenige einzelne Fälle, die durch Kirchenasyle vor der Abschiebung bewahrt werden. Dennoch ruft die Praxis im Bundesamt für Migration die Hardliner auf den Plan, vermehrt ist nun seit einiger Zeit in der Debatte, das Kirchenasyl doch als Abtauchen zu werten und die Überstellungsfrist damit automatisch auf 18 Monate zu verlängern. In den meisten anderen europäischen Ländern hat diese Praxis (wahrscheinlich meist aufgrund der schwächeren Verhandlungsposition der Kirchen) sowieso so nie funktioniert. In Schweden unterstützen Kirchengemeinden immer wieder Menschen, die sich 18 Monate lang verstecken müssen, bis ihr Verfahren in Schweden durchgeführt wird.

Dublin-System kollabiert in Ungarn – im Sommer der Migration 2015

16.9.2015 Hanau – Welcome to Trains of Hope: 7 Tage von Izmir nach Hanau

Unzählige Male haben wir noch im August auf Lesvos die Frage beantwortet, was mit den Fingerabdrücken in Ungarn ist, nach denen nun einen Monat später keiner mehr fragt. Wir haben gesagt: „Geht weiter, ihr werdet ankommen, der Weg ist schwer, aber nie waren die Menschen so schnell wie heute!“ Wir haben gewunken an den Sonderfähren, jeweils bis zu 2500 Menschen im Aufbruch Richtung mazedonischer Grenze. Sie sind schnell gewesen, so schnell wie nie zuvor, Rekord in 7 Tagen von Izmir nach Hanau, 10 Tage von Homs.

Jetzt stehen wir in Hanau am Bahnhof immer wieder nachts und sagen Willkommen auf einer Etappe der Reise, gemeinsam mit vielen anderen aus den verschiedenen communities und deren Vereinen, viele die einfach Hallo sagen wollen. Auch hier in den Notunterkünften, Turnhallen und Zelten ist noch immer für viele offen, wo die Reise hingeht. Auch hier noch keine Registrierung, zumindest für einen Moment die alten Regeln der schnellen Reglementierung gelockert. Viele werden weiter gehen, nach Schwerte zur Tante, nach Leipzig zur Verlobten oder nach Hamburg, weil da mehr Afghanen leben – oder von da aus weiter gen Norden, manche wollen bis Schweden, Norwegen oder Finnland. Nach ein paar Tagen entscheiden sich einige zu bleiben, weil sie nette Leute getroffen haben, weil die Stadt relativ mittig in Deutschland liegt oder weil sie einfach müde sind und endlich ankommen wollen. Welcome!18

Zum Durchbruch auf der Balkanroute, der schließlich zu der hier beschriebenen Szene im September 2015 führte ist an anderer Stelle viel geschrieben worden.19 Es war keine ausgefeilte Strategie, die das Dublin-System temporär zum kollabieren brachte, sondern erneut eine Abstimmung mit den Füssen im buchstäblichen Sinne. Es war der Mut der Verzweiflung, vielleicht gemischt mit der Widerstandserfahrung in den ersten syrischen Aufständen und der richtige Moment, der dann dazu führte, dass die Entscheidung der Grenzöffnung getroffen wurde. Es ist wichtig, das zu erinnern, wenn wir heute den bereits angelaufenen Rollback kontern wollen.

Rollback:

Seit dem Durchbruch im September 2015 gab es auf allen Ebenen Versuche, die Kontrolle wiederzugewinnen, wie wir alle wissen. Die Schließung des formalisierten Korridors entlang der Balkanroute, der EU-Türkei-Deal, die massenhafte Internierung auf den Inseln der Ägäis, die erneute Zunahme von Pushbacks zwischen den verschiedenen Balkanstaaten.

Gleichzeitig die Debatte um eine Rundumerneuerung der Dublin-Verordnung. Dublin IV wird nicht zuletzt die Abschaffung der timelimits, der Überstellungsfristen bei Dublin-Überstellungen beinhalten. Nicht verwunderlich, war es doch oftmals die Überwindung dieser zeitlichen Begrenzung von Abschiebungen, mit der schlussendlich tausende von Menschen aus der Dublin-Falle ausbrechen konnten.

Auch an der Reinstallierung von Dublin-Abschiebungen nach Griechenland wird eifrig gearbeitet.

One step forward, hundreds back…’ seems to be the motto under which EU experts implement refugee policy, as currently also demonstrated in Greece. On 8 December 2015, the European Commission published its fourth recommendation on the resumption of Dublin Returns to Greece, this time stating that they could be gradually re-installed, as according to them, refugee rights would be adequately protected in Greece. At the same time, images of people who fled war and are now staying in tents covered in snow are spreading through the global media. Once more, the EU is using Greece to make a point: Dublin has to survive, not matter what, that’s the plan. But in reality, this failed plan has significant consequences, causing one more massive human tragedy in Europe for thousands of people who are escaping war, conflict, disaster, hunger and poverty.20

Direkt vor dem Start zirkulieren bereits die Informationen, wie sich mit dieser erneuten Abschiebeandrohung umgehen lässt in den griechischen Flüchtlingslagern. Welcome to Europe hat ein detailliertes Infoblatt dazu erarbeitet.21

Ausblicke?

Relativ einfach vorherzusagen: Griechenland wird allen Ankündigungen der Reinstallierung von Dublin-Überstellungen zum Trotz erneut eine Abstimmung mit den Füssen erleben:

But Dublin will fall again! Deportations to Greece were already once stopped back in 2011 following the decision of the European Human Rights Court in the case ‘MSS v. Greece’ – and as a result of a long struggle during which many, many refugees escaped from Greece, were deported and escaped again. Some had to flee through Europe 5-6 times. But finally it was over, they succeeded often, and stayed.
Dublin Returns to Greece will be strongly contested in national and international courts again now. As we have seen, the Dublin-regulation has been overrun many times before by the struggles for freedom of movement of individuals and groups.
Mouzalas had to correct himself. We politely suggest the European Commission to do the same.

Refugees are no numbers on a tent, no fingerprints, but people with faces, names and stories!

The Dublin Regulation has to be abolished now.
Human rights violations have to end now.
People have to join their families now.
People have to be in safety and in dignified conditions now.

We therefore demand:

Equal rights for all!
Freedom of movement to all refugees in Greece and elsewhere!
The right to stay for all!
Stop deportations!

No one is illegal!

w2eu – a network born out of the struggle against Dublin returns in 200922

Die Anti-Abschiebekämpfe entwickeln sich permanent weiter. Seitdem in Osnabrück die Abschiebungen nicht mehr angekündigt werden und die Mobilisierung von Unterstützung von außen, um die Abschiebungen zu verhindern nicht mehr gelingt, haben sich Geflüchtete in einem Osnabrücker Lager selbst organisiert und die Abschiebeverhinderung in die eigenen Hände genommen. Sie patrouillieren nachts an den Eingängen des Lagers, mit Trillerpfeifen wird in Windeseile das gesamte Camp geweckt. Die Polizei zieht angesichts hunderter Sudanesen, die ihnen mit Trillerpfeifen entgegentreten bislang unverrichteter Dinge wieder ab.

Das Beispiel von Osnabrück ist ein Beispiel des lebendigen Lernens und Anpassens von Strategien. Es ist beeindruckend, was alles möglich ist, wenn Menschen miteinander sprechen und kollektive Strategien sich aus dem Austausch entwickeln können.

Die Trillerpfeife ist zum Symbol geworden, zum Symbol des Widerstands gegen die Dublin-Abschiebungen. Wir haben einen Nachbau gebaut, 2 Meter groß – um ihn als Symbol gegen die Dublin-Abschiebungen am 16.September vor das deutsche Innenministerium zu tragen.

Und dann weiter an den Oranienplatz und an alle Orte, wo sich Betroffene sammeln, die sich nicht einfach abführen lassen wollen und Menschen die dieses Unrecht nicht hinnehmen wollen. Um die Geschichten des Widerstands zu erzählen. Damit sie weitererzählt werden und neue Ideen entstehen. Damit das Recht auf Bewegungsfreiheit und das Recht zu Bleiben, damit Freizügigkeit schlussendlich durchgesetzt wird.

1 Dublin-Deaths between Kerkyra/Greece and Bari/Italy (15th of January 2011), http://infomobile.w2eu.net/2011/07/28/dublin-deaths-between-kerkyragreece-and-bariitaly-15th-of-january-2011/

3 Auszüge aus einem Bericht von Salinia Stroux und Regina Mantanika von Februar 2010: „Schengendangle – Undocumented Refugees in the City of Igoumenitsa“, http://infomobile.w2eu.net/files/2010/03/schengendangle_small.pdf

10 Quelle (englisch): http://migszol.com/cikk/591 (Link funktioniert nicht mehr!)

12 Ausstellung der Gruppe Lampedusa in Hanau, http://lampedusa-in-hanau.antira.info/austellung-2/

13 Der Fluch des Fingerabdrucks, stern Nr. 43, 18.10.2012.

14 Aus dem Aufruf von März 2012: Aktionstage an den 5 größten deutschen Abschiebeflughäfen: http://dublin2.info/2012/04/459/

17 Gründungserklärung von Lamedusa in Hanau, http://lampedusa-in-hanau.antira.info/uber-uns-about-us/

18 Transact-Flyer? Wann und wo zu finden?

19 Besonders hervorgehoben sei ein Bericht von bordermonitoring.eu, der die Entstehung des formalisierten Korridors auf der Balkanroute (leider nur auf deutsch) detailliert nachzeichnet: http://bordermonitoring.eu/wp-content/uploads/2017/08/report-2017-balkan_web.pdf.

20 w2eu Statement 22.01.2017: No Dublin Returns to Greece!, http://infomobile.w2eu.net/2017/01/22/no-dublin-returns-to-greece/

21 w2eu.info on Dublin > Greece, März 2017, http://w2eu.info/greece.en/articles/greece-dublin2.en.html

22 w2eu Statement 22.01.2017: No Dublin Returns to Greece!, http://infomobile.w2eu.net/2017/01/22/no-dublin-returns-to-greece/.